Mittwoch, 28. September 2016

Zeitproblem

Der DJK dürfte Ihnen ein Begriff sein. Ausgeschrieben ist die Bezeichnung dieses katholischen Sportverbandes weniger geläufig: Deutsche Jugendkraft. Gegründet wurde er 1920 in Würzburg, aber das habe ich gerade nachgeschlagen, das war mir auch nicht bekannt. Das "deutsch" dürfte da nicht mehr so eng gesehen werden, sonst riefe das Merkels Denunziationsminister Heiko Ehrenburg Maas auf den Plan. Katholisch ist ebenfalls keine Pflicht mehr, und schon bei der Gründung herrschte Einigkeit, daß die Mitgliedschaft nicht auf die Jugend begrenzt sein würde.
Damit lasse ich den DJK in Frieden und widme mich dem Teil, das zu seiner Erwähnung geführt hat: der Jugendkraft. Wissen Sie noch, wie es in der Jugend war? Das Leben erschien als eine einzige große Wundertüte, voller angenehmer Überraschungen, voller Chancen. Wenn ich groß bin... Dieser Einleitung folgten zahlreiche Wünsche und Hoffnungen. Ich fahre Porsche, ich habe ein Haus, bin Pilot, Wissenschaftler, Pfarrer... Der nächste Tag bringt neue Überraschungen, neue Wunder... Ja, das ist Jugend, Probleme waren dazu da, mittels der Jugendkraft gelöst zu werden.
Mit fast 60 habe ich das reifere Alter erreicht. Ich bin mir der Endlichkeit des Lebens bewußt. In der Wundertüte habe ich immer wieder Mausefallen gefunden, die mir ordentlich eins auf die Finger gegeben haben. Porsche fahre ich nicht, ein Haus habe ich nicht, Pilot bin ich nicht geworden, als Wissenschaftler bezeichnet mich allenfalls mein Universitätsdiplom und Pfarrer... Mit dem Buch "Die spirituelle Welt" wäre ich früher auf dem Index oder dem Scheiterhaufen gelandet. Der nächste Tag bringt neue Rechnungen, Probleme türmen sich immer aufs Neue auf. Die Jugendkraft ist eine ferne Erinnerung.
Psychologen haben dafür schöne Erklärungen. Mit fünf Jahren entspricht das sechste Jahr 20% des bisherigen Lebens, was immer kommt, ist zum größten Teil neu. Wir kommen in die Schule, werden jedes Jahr "befördert", also in die nächste Klasse versetzt. Wir dürfen endlich in die Filme "ab 12" (einverstanden, das ist heute keine Schwelle mehr), wir steigen auf zum Mofa, zum Moped, zum Auto... Wir werden volljährig, dürfen ab nun unseren Mann oder unsere Frau stehen. Wir sind jedes Jahr gewachsen, wir wurden jedes Jahr stärker, haben jedes Jahr mehr gekonnt als zuvor. Wir treten hinaus in die Welt, um der Welt zu zeigen, wer wir sind. Denn genau das wissen wir noch nicht, da erwarten wir noch die Antworten auf unsere Fragen.
Das Leben erscheint unendlich, wir selbst sind unsterblich. Mit dem Tod werden wir nur ganz selten konfrontiert. Höchstens ein guter Freund erleidet einen Unfall, ansonsten trifft das Sterben nur ganz alte Leute. Wir wissen, das Sterben gehört zum Leben, aber gewiß nicht zu unserem Leben. Wer mit 20 einen Baum pflanzt, darf davon ausgehen, daß er dereinst in dessen Schatten sitzen wird. Wer mit 30 ein Haus baut, erwartet, daß er darin die nächsten Jahrzehnte wohnen wird.
Wer mit 60 einen Baum pflanzt, kann eher davon ausgehen, daß dessen Krone sein Grab überschattet. Sicher gibt es Leute, die 100 werden, und die Rekordhalter haben sogar die 120 überschritten. Doch der Blick nach vorne zeigt, daß da irgendwo ein Grabstein stehen wird, der meinen Namen trägt. Ein Haus bauen? Wozu? Für die Kinder vielleicht, doch ich habe keine Kinder. Wenn ich mein Elternhaus erbe, lohnt es sich nicht, das noch großartig umzubauen. Die Zeit des Aufwands lohnt nicht die Zeit des Nutzens.
Als mein Vater mir früher erzählt hat "vor zwanzig Jahren", war das vor meiner Geburt. Das war eine mystische Zeit, etwa dort, wo die Märchen spielen, die ich früher gerne gelesen habe. Inzwischen ist diese Vergangenheit sortiert, Antike, Kreuzzüge, Biedermeier - es sind feste Pfähle eingeschlagen. Heute könnte ich selbst erzählen "vor vierzig Jahren", nur ist da nichts traum- oder märchenhaft, die Zeit besteht aus Gesichtern, aus Handlungen, aus Freude und Verlust. Und manchmal sehnt man sich danach, daß der Nachbarsjunge klingelt und einen zum Fußballspielen abholt. Etwas, das nie geschehen wird, denn es war vor vierzig, vor fünfundvierzig Jahren.
Die Ureinwohner Australiens nennen ihre mystische Vergangenheit die Traumzeit. Ich möchte mir diesen Begriff gerne ausleihen. Wann war sie zu Ende, meine Traumzeit? Jene Zeit, von der ich heute träume? Wann habe ich angefangen, nicht mehr fröhlich nach vorne, sondern immer öfter sehnsüchtig in den Rückspiegel zu sehen? Es muß irgendwann zwischen 30 und 40 gewesen sein, als in der Wundertüte des Lebens immer öfter die Mausefallen aufgetaucht sind. Mein Studium hat sich hingezogen, doch dann kam die finale Beförderung, der Sprung hinaus ins Leben. Ab dann sind die Möglichkeiten endlich geworden.
Ich habe das früher mit einem Kreis verglichen. Mit dem Abitur hat man alle Möglichkeiten zur Auswahl, die 360 Grad des vollen Kreises. Doch schon der nächste Schritt verengt die Perspektive, schließt viele Möglichkeiten aus. Nach dem Studium ist man ein ganzes Stück weitergekommen, doch es sind höchstens noch fünf Grad des Kreises übrig geblieben. Mit der Berufswahl verengt sich der Weg erneut. Ein "Physiker" kann vielfältig eingesetzt werden, ein Spezialist für technische Software ist auf einer schmalen Spur gelandet, fährt nur noch eingleisig weiter, wurde auf ein Viertelgrad reduziert.
An dem Tag, als ich mein Diplom erhalten habe, war mir bewußt, daß dies mein letzter Tag als Physiker sein würde. Danach wurde ich Programmierer, und mein schönes Diplom hat mich dazu berechtigt, statt mit 2.000 DM pro Monat mit 4.000 DM anzufangen. 17 Jahre später kam der Tag, an dem ich aufgehört habe, Programmierer zu sein. Der Schritt ins Nichts, der Neuanfang als Schriftsteller. Damals muß noch ein Funke der Jugendkraft in mir geglommen haben, der Antrieb, erneut in die Wundertüte zu greifen, trotz der möglichen Mausefallen. 2004, mit 47 Jahren...
Entschuldigen Sie, wenn ich so viel von mir selbst hier schreibe. Mein eigenes Leben ist nun einmal das, welches ich am besten kenne. Ich nehme an, daß Sie selbst vieles ähnlich durchlebt haben, nur daß bei Ihnen eine 25 steht oder eine 38, wo ich eine 30 stehen habe. Wenn ich meinen Bekanntenkreis durchforste, finde ich dort kein Leben, das ohne Brüche verlaufen wäre. Und wenn doch, dann liegt es daran, daß ich nicht genau genug hingeschaut habe. Das Leben beginnt wie die Blüte eines Löwenzahns. Zumeist erwählen wir uns aus der Fülle dieser Blüte ein einziges, ganz kleines gelbes Blättchen, das uns in die Zukunft trägt. Wir können festhalten, warten, bis die Blüte reif ist, uns mit einem Schirmchen und dem Samenkorn dem Wind überlassen. Wir müssen es, denn die Pflanze wird schließlich absterben.
Wenn man jung ist, und irgendwelche Leute, die man immer getroffen hat, tauchen nicht mehr auf, dann sind die nicht etwa tot, sondern nur verheiratet. Im fortgeschrittenen Alter ist das anders. Erst vor zwei Tagen habe ich erfahren, daß ich einen Mann, der früher oft in meinen Chat gekommen war, nicht etwa vergrault habe, sondern daß dieser mittlerweile verstorben ist. Die Todesanzeigen der Tageszeitung haben mich früher nie interessiert, das war zwischenzeitlich anders, als dort bekannte Namen auftauchten. Ehemalige Lehrer... Inzwischen lese ich das Käseblättchen nicht mehr, so bleibt mir der nächste Schritt erspart, die Namen ehemaliger Mitschüler.
Das Alter ist die Zeit der eingeschränkten Möglichkeiten. Dies bringt die sprichwörtlichen bösen alten Männer hervor, die mit Macht und Geld das ersetzen, was ihnen die Jahre genommen haben. Wir kennen ihre Namen, George Soros, Henry Kissinger, Joachim Gauck mögen genügen. Es gibt genauso die bösen alten Frauen, Hillary Clinton, Liz Mohn und Friede Springer seien hier angeführt. Diese Menschen, die längst an der Schwelle des Jenseits stehen, wollen der Welt nach wie vor ihren Stempel aufdrücken, wollen das Leben der Jugend bestimmen.
Wenn ich eines gelernt habe, dann daß man im Alter loslassen muß. Gelernt heißt aber nicht verinnerlicht, denn diese Lehre mißachte ich immer wieder. Loslassen ist das, was ebenso als altersmilde bezeichnet wird. Ich kann mit 60 einem Zwanzigjährigen Ratschläge geben, doch ich darf nicht sein Leben bestimmen wollen. Die Jugend hat ein Recht auf eigene Erfahrungen, auf eigene Fehler. Wer mit dem Kopf gegen die Wand rennen will, soll das tun, es ist nicht meine Aufgabe, ihn vorher niederzuschlagen.
Genauso ist es ein Fehler, im Alter mit Scheuklappen herumzulaufen. Die Alten können genauso von den Jungen lernen, die in ihrem Ungestüm und ihrer Kreativität Lösungen finden, wo wir selbst früher gescheitert sind. Wir Alten wissen zwar oft mehr, aber beileibe nicht alles besser. Daß die Jugend faul, unfähig und verlottert ist, lesen wir in Texten, die schon vor 2.500 Jahren geschrieben worden sind. Und jedesmal ist die faule, unfähige und verlotterte Jugend zu Alten herangewachsen, die das Gemeinwesen weitergeführt und ihrerseits über die faule, unfähige und verlotterte Jugend geschimpft haben.
Das Alter bietet neue, eigene Möglichkeiten. Wir können unsere Erfahrungen aufzeichnen und diesen Schatz an unsere Nachkommen weitergeben. Aber bitte nicht in der Form der "Auto"-Biographien der Politiker, die uns einreden, sie hätten von Anfang an recht gehabt und alle anderen sind wahlweise Arschlöcher oder Schwerverbrecher. Wir haben eben nicht immer recht gehabt, wir haben Fehler begangen und aus diesen gelernt. Wenn die Jugend die Möglichkeit hat, aus unseren Fehlern zu lernen, eröffnet ihnen das die Möglichkeit, neue, eigene Fehler zu begehen und daraus zu lernen.
Die eigenen Kinder sind zu beschäftigt um zuzuhören? Die Enkel sind es nicht! Doch vielleicht sind wir zu beschäftigt, um mit ihnen zu sprechen. Nicht umsonst gibt es das Wort "Unruhestand", das den Alten beschreibt, der auf vielerlei Weise versucht zu zeigen, wie wichtig und unverzichtbar er doch ist. In manchen Vereinen wird notiert, wann ein bestimmtes Mitglied in Rente geht, um ihm dann Pöstchen anzubieten, für die er ja jetzt Zeit hat.
Andererseits, die Lebensphase, die wir "Alter" nennen, zieht sich hin. Der Arzt, der seinem alten Patienten empfiehlt, keine Langspielplatte mehr zu kaufen, ist nur eine Witzfigur. Uns bleiben Jahre und Jahrzehnte, um das zu übergeben, was wir der Nachwelt hinterlassen wollen. Wir müssen uns dabei bewußt sein, daß das, was wir tun, nicht mehr für uns selbst sein wird, sondern für eine Nachwelt, die unsere Hinterlassenschaft annehmen oder verwerfen kann. Der demokratische Politiker läßt eine Umgehungsstraße bauen, weil diese JETZT gebraucht wird. Frühere Könige haben Eichenwälder pflanzen lassen, damit in hundert Jahren Schiffsbauholz zur Verfügung steht.
Die teure Flasche Wein, die Sie kaufen, um sie für eine besondere Gelegenheit zurückzulegen, werden Sie vielleicht nicht mehr selbst trinken. Aber deswegen darauf verzichten? Nein, das wäre grundfalsch! Ihr Leben hat weiterhin einen Wert, und Sie verfügen zwar nicht mehr über die Jugendkraft, dafür über Schaffenskraft, Lebenserfahrung und Altersweisheit. Ihre Zeit läuft aus, unerbittlich. Verluste, die Sie erleiden, werden Sie ziemlich sicher nicht mehr ausgleichen können. Das alles ist richtig, doch wenn Sie sich dieser Tatsachen bewußt sind, richten Sie Ihr Leben darauf ein. Reduzieren Sie das Risiko und planen Sie Ihre Vorhaben kleinteilig, am besten so, daß selbst die Zwischenschritte brauchbare Ergebnisse liefern.
Im Kontobuch eines jeden Lebens stehen offene Rechnungen. Sie werden sie weder einfordern noch bezahlen können, weil Ihre Zeit dafür ausläuft. Sie können diese offenen Posten jedoch schließen, sie als Verluste in die Bilanz übernehmen und damit aus dem Kontobuch löschen. Auch das gehört zum Loslassen. "...wie auch wir vergeben unseren Schuldigern..." Kennen Sie diese Zeile? Diese Worte folgen auf "Und vergib uns unsere Schuld". Das ist der Rat, die offenen Rechnungen im Kontobuch des Lebens zu schließen. Das schließt auch Ihren allergrößten Schuldiger ein, dem Sie vergeben sollen, ja unbedingt müssen: sich selbst!
Warum habe ich vor zwanzig, dreißig, vierzig Jahren das getan und mich nicht anders entschieden? Hätte ich doch... Ich habe aber nicht! Ich lebe seit zwanzig, dreißig, vierzig Jahren mit dieser Entscheidung, und hätte ich es damals anders, aus heutiger Sicht richtig gemacht, hätte ich einen anderen Fehler begangen, dem ich stattdessen nachtrauern würde. Da Ihre Zeit ausläuft, wird es Zeit, sich selbst zu vergeben. Vergeben, nicht vergessen, die Lehre aus dem Fehler behalten, darauf kommt es an.
Ob auf der Autobahn oder im Stadtverkehr, es ist wichtig, hin und wieder in den Rückspiegel zu schauen. Das entscheidende Geschehen spielt sich jedoch vor uns ab, deshalb sollten wir die meiste Zeit nach vorne blicken, auf das, auf das wir zusteuern, auf das, was uns entgegen kommt. Das Ende einer jeden Autofahrt ist der heimische Parkplatz, daran ändern selbst 2.000 Kilometer Strecke nichts. Auf der Fahrt begegnen uns andere Autos, Landschaften, Baustellen, Ampeln, Kreuzungen - das alles gehört dazu. Wir entscheiden, ob und wieviel wir von der Welt da draußen aufnehmen. Wir entscheiden, ob wir bloß ein endloses Band diverser Straßen sehen oder das Leben, das entlang dieser Straßen pulsiert. Doch am Ende stehen wir auf dem Parkplatz, sind dort, wo wir schon so oft gewesen sind. Je näher das Ende einer Fahrt heranrückt, desto mehr beschäftigen wir uns mit unserem Zuhause, ob wir uns darauf freuen oder dessen Eintönigkeit verabscheuen.
Es ist ganz natürlich, mit fortschreitendem Alter an das Ende zu denken. Es zu verdrängen wäre ein Fehler, denn das Ende ist unvermeidbar. Manche Menschen planen ihre Beerdigung, treffen alle Arrangements, bezahlen den Leichenbestatter, erstellen das Menu für den Leichenschmaus. Andere werden hektisch, rennen zum Pfarrer, vermachen ihr Hab und Gut der Kirche. Wieder andere halten ihren Tod für eine Katastrophe, die sie um jeden Preis hinauszögern wollen. Vegane Ernährung, kein Alkohol, nicht rauchen, viel Bewegung, keine Aufregung - vielleicht werden Sie trotzdem keine Hundert, aber es dürfte Ihnen so vorkommen. Dabei ist es gleichgültig, wie gesund Sie sterben, denn sterben werden Sie trotzdem. Ihre Zeit läuft aus. Wenn Sie nicht damit umgehen können, wird daraus ein Zeitproblem.
"Wir wollen Ihre Lebensversicherung am liebsten an Sie selbst auszahlen." Diesen Werbespruch habe ich schon lange nicht mehr gehört. Es ist Ihre Sache, ob Sie an Wiedergeburt glauben, doch wenn Sie es tun, dann sind letztlich Sie selbst derjenige, der die Früchte Ihres Lebens ernten wird. Nicht das Photoalbum Ihres Großvaters, und auch der Familienschmuck wird anderweitig vererbt, doch die Welt, die Sie hinterlassen, wird die Welt sein, die Sie im nächsten Leben vorfinden. Insofern sind Sie selbst derjenige, der Ihr Vermächtnis erhalten wird. Insofern sehe ich jene Zeit, die mir noch verbleibt, als eine Zeit der Aussaat. Und wenn ich selbst dies nicht ernten werde, so bleibt das ein Geschenk an eine zukünftige Welt.
Jedes Leben hat einen Sinn!

© Michael Winkler

Quelle:http://www.michaelwinkler.de/Pranger/Pranger.html

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