Der DJK dürfte Ihnen ein Begriff sein.
Ausgeschrieben ist die Bezeichnung dieses katholischen Sportverbandes
weniger geläufig: Deutsche Jugendkraft. Gegründet wurde er 1920 in
Würzburg, aber das habe ich gerade nachgeschlagen, das war mir auch
nicht bekannt. Das "deutsch" dürfte da nicht mehr so eng gesehen werden,
sonst riefe das Merkels Denunziationsminister Heiko Ehrenburg Maas auf
den Plan. Katholisch ist ebenfalls keine Pflicht mehr, und schon bei der
Gründung herrschte Einigkeit, daß die Mitgliedschaft nicht auf die
Jugend begrenzt sein würde.
Damit lasse ich den DJK in Frieden und widme
mich dem Teil, das zu seiner Erwähnung geführt hat: der Jugendkraft.
Wissen Sie noch, wie es in der Jugend war? Das Leben erschien als eine
einzige große Wundertüte, voller angenehmer Überraschungen, voller
Chancen. Wenn ich groß bin... Dieser Einleitung folgten zahlreiche
Wünsche und Hoffnungen. Ich fahre Porsche, ich habe ein Haus, bin Pilot,
Wissenschaftler, Pfarrer... Der nächste Tag bringt neue Überraschungen,
neue Wunder... Ja, das ist Jugend, Probleme waren dazu da, mittels der
Jugendkraft gelöst zu werden.
Mit fast 60 habe ich das reifere Alter
erreicht. Ich bin mir der Endlichkeit des Lebens bewußt. In der
Wundertüte habe ich immer wieder Mausefallen gefunden, die mir
ordentlich eins auf die Finger gegeben haben. Porsche fahre ich nicht,
ein Haus habe ich nicht, Pilot bin ich nicht geworden, als
Wissenschaftler bezeichnet mich allenfalls mein Universitätsdiplom und
Pfarrer... Mit dem Buch "Die spirituelle Welt" wäre ich früher auf
dem Index oder dem Scheiterhaufen gelandet. Der nächste Tag bringt neue
Rechnungen, Probleme türmen sich immer aufs Neue auf. Die Jugendkraft
ist eine ferne Erinnerung.
Psychologen haben dafür schöne Erklärungen. Mit
fünf Jahren entspricht das sechste Jahr 20% des bisherigen Lebens, was
immer kommt, ist zum größten Teil neu. Wir kommen in die Schule, werden
jedes Jahr "befördert", also in die nächste Klasse versetzt. Wir dürfen
endlich in die Filme "ab 12" (einverstanden, das ist heute keine
Schwelle mehr), wir steigen auf zum Mofa, zum Moped, zum Auto... Wir
werden volljährig, dürfen ab nun unseren Mann oder unsere Frau stehen.
Wir sind jedes Jahr gewachsen, wir wurden jedes Jahr stärker, haben
jedes Jahr mehr gekonnt als zuvor. Wir treten hinaus in die Welt, um der
Welt zu zeigen, wer wir sind. Denn genau das wissen wir noch nicht, da
erwarten wir noch die Antworten auf unsere Fragen.
Das Leben erscheint unendlich, wir selbst sind
unsterblich. Mit dem Tod werden wir nur ganz selten konfrontiert.
Höchstens ein guter Freund erleidet einen Unfall, ansonsten trifft das
Sterben nur ganz alte Leute. Wir wissen, das Sterben gehört zum Leben,
aber gewiß nicht zu unserem Leben. Wer mit 20 einen Baum pflanzt, darf
davon ausgehen, daß er dereinst in dessen Schatten sitzen wird. Wer mit
30 ein Haus baut, erwartet, daß er darin die nächsten Jahrzehnte wohnen
wird.
Wer mit 60 einen Baum pflanzt, kann eher davon
ausgehen, daß dessen Krone sein Grab überschattet. Sicher gibt es Leute,
die 100 werden, und die Rekordhalter haben sogar die 120 überschritten.
Doch der Blick nach vorne zeigt, daß da irgendwo ein Grabstein stehen
wird, der meinen Namen trägt. Ein Haus bauen? Wozu? Für die Kinder
vielleicht, doch ich habe keine Kinder. Wenn ich mein Elternhaus erbe,
lohnt es sich nicht, das noch großartig umzubauen. Die Zeit des Aufwands
lohnt nicht die Zeit des Nutzens.
Als mein Vater mir früher erzählt hat "vor
zwanzig Jahren", war das vor meiner Geburt. Das war eine mystische Zeit,
etwa dort, wo die Märchen spielen, die ich früher gerne gelesen habe.
Inzwischen ist diese Vergangenheit sortiert, Antike, Kreuzzüge,
Biedermeier - es sind feste Pfähle eingeschlagen. Heute könnte ich
selbst erzählen "vor vierzig Jahren", nur ist da nichts traum- oder
märchenhaft, die Zeit besteht aus Gesichtern, aus Handlungen, aus Freude
und Verlust. Und manchmal sehnt man sich danach, daß der Nachbarsjunge
klingelt und einen zum Fußballspielen abholt. Etwas, das nie geschehen
wird, denn es war vor vierzig, vor fünfundvierzig Jahren.
Die Ureinwohner Australiens nennen ihre
mystische Vergangenheit die Traumzeit. Ich möchte mir diesen Begriff
gerne ausleihen. Wann war sie zu Ende, meine Traumzeit? Jene Zeit, von
der ich heute träume? Wann habe ich angefangen, nicht mehr fröhlich nach
vorne, sondern immer öfter sehnsüchtig in den Rückspiegel zu sehen? Es
muß irgendwann zwischen 30 und 40 gewesen sein, als in der Wundertüte
des Lebens immer öfter die Mausefallen aufgetaucht sind. Mein Studium
hat sich hingezogen, doch dann kam die finale Beförderung, der Sprung
hinaus ins Leben. Ab dann sind die Möglichkeiten endlich geworden.
Ich habe das früher mit einem Kreis verglichen.
Mit dem Abitur hat man alle Möglichkeiten zur Auswahl, die 360 Grad des
vollen Kreises. Doch schon der nächste Schritt verengt die Perspektive,
schließt viele Möglichkeiten aus. Nach dem Studium ist man ein ganzes
Stück weitergekommen, doch es sind höchstens noch fünf Grad des Kreises
übrig geblieben. Mit der Berufswahl verengt sich der Weg erneut. Ein
"Physiker" kann vielfältig eingesetzt werden, ein Spezialist für
technische Software ist auf einer schmalen Spur gelandet, fährt nur noch
eingleisig weiter, wurde auf ein Viertelgrad reduziert.
An dem Tag, als ich mein Diplom erhalten habe,
war mir bewußt, daß dies mein letzter Tag als Physiker sein würde.
Danach wurde ich Programmierer, und mein schönes Diplom hat mich dazu
berechtigt, statt mit 2.000 DM pro Monat mit 4.000 DM anzufangen. 17
Jahre später kam der Tag, an dem ich aufgehört habe, Programmierer zu
sein. Der Schritt ins Nichts, der Neuanfang als Schriftsteller. Damals
muß noch ein Funke der Jugendkraft in mir geglommen haben, der Antrieb,
erneut in die Wundertüte zu greifen, trotz der möglichen Mausefallen.
2004, mit 47 Jahren...
Entschuldigen Sie, wenn ich so viel von mir
selbst hier schreibe. Mein eigenes Leben ist nun einmal das, welches ich
am besten kenne. Ich nehme an, daß Sie selbst vieles ähnlich durchlebt
haben, nur daß bei Ihnen eine 25 steht oder eine 38, wo ich eine 30
stehen habe. Wenn ich meinen Bekanntenkreis durchforste, finde ich dort
kein Leben, das ohne Brüche verlaufen wäre. Und wenn doch, dann liegt es
daran, daß ich nicht genau genug hingeschaut habe. Das Leben beginnt
wie die Blüte eines Löwenzahns. Zumeist erwählen wir uns aus der Fülle
dieser Blüte ein einziges, ganz kleines gelbes Blättchen, das uns in die
Zukunft trägt. Wir können festhalten, warten, bis die Blüte reif ist,
uns mit einem Schirmchen und dem Samenkorn dem Wind überlassen. Wir
müssen es, denn die Pflanze wird schließlich absterben.
Wenn man jung ist, und irgendwelche Leute, die
man immer getroffen hat, tauchen nicht mehr auf, dann sind die nicht
etwa tot, sondern nur verheiratet. Im fortgeschrittenen Alter ist das
anders. Erst vor zwei Tagen habe ich erfahren, daß ich einen Mann, der
früher oft in meinen Chat gekommen war, nicht etwa vergrault habe,
sondern daß dieser mittlerweile verstorben ist. Die Todesanzeigen der
Tageszeitung haben mich früher nie interessiert, das war
zwischenzeitlich anders, als dort bekannte Namen auftauchten. Ehemalige
Lehrer... Inzwischen lese ich das Käseblättchen nicht mehr, so bleibt
mir der nächste Schritt erspart, die Namen ehemaliger Mitschüler.
Das Alter ist die Zeit der eingeschränkten
Möglichkeiten. Dies bringt die sprichwörtlichen bösen alten Männer
hervor, die mit Macht und Geld das ersetzen, was ihnen die Jahre
genommen haben. Wir kennen ihre Namen, George Soros, Henry Kissinger,
Joachim Gauck mögen genügen. Es gibt genauso die bösen alten Frauen,
Hillary Clinton, Liz Mohn und Friede Springer seien hier angeführt.
Diese Menschen, die längst an der Schwelle des Jenseits stehen, wollen
der Welt nach wie vor ihren Stempel aufdrücken, wollen das Leben der
Jugend bestimmen.
Wenn ich eines gelernt habe, dann daß man im
Alter loslassen muß. Gelernt heißt aber nicht verinnerlicht, denn diese
Lehre mißachte ich immer wieder. Loslassen ist das, was ebenso als
altersmilde bezeichnet wird. Ich kann mit 60 einem Zwanzigjährigen
Ratschläge geben, doch ich darf nicht sein Leben bestimmen wollen. Die
Jugend hat ein Recht auf eigene Erfahrungen, auf eigene Fehler. Wer mit
dem Kopf gegen die Wand rennen will, soll das tun, es ist nicht meine
Aufgabe, ihn vorher niederzuschlagen.
Genauso ist es ein Fehler, im Alter mit
Scheuklappen herumzulaufen. Die Alten können genauso von den Jungen
lernen, die in ihrem Ungestüm und ihrer Kreativität Lösungen finden, wo
wir selbst früher gescheitert sind. Wir Alten wissen zwar oft mehr, aber
beileibe nicht alles besser. Daß die Jugend faul, unfähig und
verlottert ist, lesen wir in Texten, die schon vor 2.500 Jahren
geschrieben worden sind. Und jedesmal ist die faule, unfähige und
verlotterte Jugend zu Alten herangewachsen, die das Gemeinwesen
weitergeführt und ihrerseits über die faule, unfähige und verlotterte
Jugend geschimpft haben.
Das Alter bietet neue, eigene Möglichkeiten.
Wir können unsere Erfahrungen aufzeichnen und diesen Schatz an unsere
Nachkommen weitergeben. Aber bitte nicht in der Form der
"Auto"-Biographien der Politiker, die uns einreden, sie hätten von
Anfang an recht gehabt und alle anderen sind wahlweise Arschlöcher oder
Schwerverbrecher. Wir haben eben nicht immer recht gehabt, wir haben
Fehler begangen und aus diesen gelernt. Wenn die Jugend die Möglichkeit
hat, aus unseren Fehlern zu lernen, eröffnet ihnen das die Möglichkeit,
neue, eigene Fehler zu begehen und daraus zu lernen.
Die eigenen Kinder sind zu beschäftigt um
zuzuhören? Die Enkel sind es nicht! Doch vielleicht sind wir zu
beschäftigt, um mit ihnen zu sprechen. Nicht umsonst gibt es das Wort
"Unruhestand", das den Alten beschreibt, der auf vielerlei Weise
versucht zu zeigen, wie wichtig und unverzichtbar er doch ist. In
manchen Vereinen wird notiert, wann ein bestimmtes Mitglied in Rente
geht, um ihm dann Pöstchen anzubieten, für die er ja jetzt Zeit hat.
Andererseits, die Lebensphase, die wir "Alter"
nennen, zieht sich hin. Der Arzt, der seinem alten Patienten empfiehlt,
keine Langspielplatte mehr zu kaufen, ist nur eine Witzfigur. Uns
bleiben Jahre und Jahrzehnte, um das zu übergeben, was wir der Nachwelt
hinterlassen wollen. Wir müssen uns dabei bewußt sein, daß das, was wir
tun, nicht mehr für uns selbst sein wird, sondern für eine Nachwelt, die
unsere Hinterlassenschaft annehmen oder verwerfen kann. Der
demokratische Politiker läßt eine Umgehungsstraße bauen, weil diese
JETZT gebraucht wird. Frühere Könige haben Eichenwälder pflanzen lassen,
damit in hundert Jahren Schiffsbauholz zur Verfügung steht.
Die teure Flasche Wein, die Sie kaufen, um sie
für eine besondere Gelegenheit zurückzulegen, werden Sie vielleicht
nicht mehr selbst trinken. Aber deswegen darauf verzichten? Nein, das
wäre grundfalsch! Ihr Leben hat weiterhin einen Wert, und Sie verfügen
zwar nicht mehr über die Jugendkraft, dafür über Schaffenskraft,
Lebenserfahrung und Altersweisheit. Ihre Zeit läuft aus, unerbittlich.
Verluste, die Sie erleiden, werden Sie ziemlich sicher nicht mehr
ausgleichen können. Das alles ist richtig, doch wenn Sie sich dieser
Tatsachen bewußt sind, richten Sie Ihr Leben darauf ein. Reduzieren Sie
das Risiko und planen Sie Ihre Vorhaben kleinteilig, am besten so, daß
selbst die Zwischenschritte brauchbare Ergebnisse liefern.
Im Kontobuch eines jeden Lebens stehen offene
Rechnungen. Sie werden sie weder einfordern noch bezahlen können, weil
Ihre Zeit dafür ausläuft. Sie können diese offenen Posten jedoch
schließen, sie als Verluste in die Bilanz übernehmen und damit aus dem
Kontobuch löschen. Auch das gehört zum Loslassen. "...wie auch wir
vergeben unseren Schuldigern..." Kennen Sie diese Zeile? Diese Worte
folgen auf "Und vergib uns unsere Schuld". Das ist der Rat, die offenen
Rechnungen im Kontobuch des Lebens zu schließen. Das schließt auch Ihren
allergrößten Schuldiger ein, dem Sie vergeben sollen, ja unbedingt
müssen: sich selbst!
Warum habe ich vor zwanzig, dreißig, vierzig
Jahren das getan und mich nicht anders entschieden? Hätte ich doch...
Ich habe aber nicht! Ich lebe seit zwanzig, dreißig, vierzig Jahren mit
dieser Entscheidung, und hätte ich es damals anders, aus heutiger Sicht
richtig gemacht, hätte ich einen anderen Fehler begangen, dem ich
stattdessen nachtrauern würde. Da Ihre Zeit ausläuft, wird es Zeit, sich
selbst zu vergeben. Vergeben, nicht vergessen, die Lehre aus dem Fehler
behalten, darauf kommt es an.
Ob auf der Autobahn oder im Stadtverkehr, es
ist wichtig, hin und wieder in den Rückspiegel zu schauen. Das
entscheidende Geschehen spielt sich jedoch vor uns ab, deshalb sollten
wir die meiste Zeit nach vorne blicken, auf das, auf das wir zusteuern,
auf das, was uns entgegen kommt. Das Ende einer jeden Autofahrt ist der
heimische Parkplatz, daran ändern selbst 2.000 Kilometer Strecke nichts.
Auf der Fahrt begegnen uns andere Autos, Landschaften, Baustellen,
Ampeln, Kreuzungen - das alles gehört dazu. Wir entscheiden, ob und
wieviel wir von der Welt da draußen aufnehmen. Wir entscheiden, ob wir
bloß ein endloses Band diverser Straßen sehen oder das Leben, das
entlang dieser Straßen pulsiert. Doch am Ende stehen wir auf dem
Parkplatz, sind dort, wo wir schon so oft gewesen sind. Je näher das
Ende einer Fahrt heranrückt, desto mehr beschäftigen wir uns mit unserem
Zuhause, ob wir uns darauf freuen oder dessen Eintönigkeit
verabscheuen.
Es ist ganz natürlich, mit fortschreitendem
Alter an das Ende zu denken. Es zu verdrängen wäre ein Fehler, denn das
Ende ist unvermeidbar. Manche Menschen planen ihre Beerdigung, treffen
alle Arrangements, bezahlen den Leichenbestatter, erstellen das Menu für
den Leichenschmaus. Andere werden hektisch, rennen zum Pfarrer,
vermachen ihr Hab und Gut der Kirche. Wieder andere halten ihren Tod für
eine Katastrophe, die sie um jeden Preis hinauszögern wollen. Vegane
Ernährung, kein Alkohol, nicht rauchen, viel Bewegung, keine Aufregung -
vielleicht werden Sie trotzdem keine Hundert, aber es dürfte Ihnen so
vorkommen. Dabei ist es gleichgültig, wie gesund Sie sterben, denn
sterben werden Sie trotzdem. Ihre Zeit läuft aus. Wenn Sie nicht damit
umgehen können, wird daraus ein Zeitproblem.
"Wir wollen Ihre Lebensversicherung am liebsten
an Sie selbst auszahlen." Diesen Werbespruch habe ich schon lange nicht
mehr gehört. Es ist Ihre Sache, ob Sie an Wiedergeburt glauben, doch
wenn Sie es tun, dann sind letztlich Sie selbst derjenige, der die
Früchte Ihres Lebens ernten wird. Nicht das Photoalbum Ihres Großvaters,
und auch der Familienschmuck wird anderweitig vererbt, doch die Welt,
die Sie hinterlassen, wird die Welt sein, die Sie im nächsten Leben
vorfinden. Insofern sind Sie selbst derjenige, der Ihr Vermächtnis
erhalten wird. Insofern sehe ich jene Zeit, die mir noch verbleibt, als
eine Zeit der Aussaat. Und wenn ich selbst dies nicht ernten werde, so
bleibt das ein Geschenk an eine zukünftige Welt.
Jedes Leben hat einen Sinn!
© Michael Winkler
Quelle:http://www.michaelwinkler.de/Pranger/Pranger.html
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